Auszug aus Luises Reiseaufzeichnungen

 

Expedition X: Schönheit

Puhhh … stöhnt Luise leise vor sich hin, jetzt ist der Rucksack aber wirklich zu schwer! Doc Lucky hatte sich nicht davon abbringen lassen, ihr zum Abschied ein paar Glückshufeisen einzupacken mit dem eindringlichen Rat:      

Schau‘ nicht zurück – pack‘ JETZT das Glück!

Eigentlich ganz schön clever vom Doc, denkt Luise. In der Tat hatten die Zeiten, in denen sie sich unglücklich fühlte, ganz oft mit der Vergangenheit zu tun, oder mit der Zukunft – aber nur selten mit dem JETZT. „Das ist mir ja vorher noch nie aufgefallen“ denkt Luise nun hellwach, und dann fängt sie an, für sich selbst in Gedanken eine „Analyse“ zu erstellen:

Unglücksmomentgedanken:

„Hätte ich doch damals… gemacht/ nicht gemacht/    gesagt/ nicht gesagt/ nicht erlebt…“ Vergangenheit! Oder: „Wie soll das nur weitergehen…Werde ich je wieder …“ Zukunft!  

Glücksmomentgedanken                                                           

Oh, da fallen ihr jede Menge ein: Lob-Boogy-Woogy tanzen, schöne Blumen entdecken, mit Bäumen sprechen, Liebesmodule pflücken, Schätze verschenken, das Süße im Bitteren entdecken … Eigentlich hatten und haben alle diese Glücksmomente das gleiche Muster, nämlich: Mit allen Sinnen in genau DIESEM Moment, im JETZT sein.

Franz hatte ihr damals, auf ihren gemeinsamen Wanderungen in Assisi, eine kurze Passage aus einem Buch vom Junior vorgelesen, irgendetwas über das Thema Sorgen … Luise kramt in ihrem Rucksack nach ihrem Reisetagebuch, in welchem sie sich eine kleine Passage der Predigt notiert hatte. Ah - hier ist es. Also, der Junior sagt:

Macht euch keine Sorgen um euren Lebensunterhalt,  um Essen und Kleidung. Leben bedeutet mehr als Essen und Trinken, und der Mensch ist wichtiger als seine Kleidung … Und wenn ihr euch noch so sehr sorgt, könnt ihr doch euer Leben um keinen Augenblick verlängern. Wenn ihr aber nicht einmal das könnt, was sorgt ihr euch um all die anderen Dinge?“

„Der Junior hat echt Ahnung“, denkt Luise versonnen, „das ist ja total logisch, was der sagt! Was nützt es  schon, sich Sorgen zu machen? Mit seinen Gedanken ist man in der Zukunft, malt sich einen schlechten Film aus, sitzt im übelsten Kopfkino fest – und verpasst darüber die großen und kleinen Glücksmomente im JETZT. Ja, sicher, das Leben ist nicht einfach - Luise kann ein Lied davon singen … aber trotzdem: es gibt sie, die glücklichen Momente! Ganz sicher! Für jeden!

Und wie zur Bestätigung kullert just in diesem Moment ein glänzendes Hufeisen aus Luises Rucksack heraus. Luise hebt es auf und betrachtet es voller Intensität. Wie schön es schillert und blinkt. Aber es hat auch verbeulte Stellen und jede Menge Katschen und Schrammen. „Genau wie ich!“ durchfährt es sie wie ein Blitz, „ja - genau DAS macht das Leben: Es bringt Katschen und Schrammen, aber auch Schönheit und Strahlkraft. Und wenn eine Stelle total verbeult und verschrammt ist, und wenn dann genau diese Stelle nach eingehender Bearbeitung besonders hell blinkt, dann zeigt das ja nur allzu deutlich, dass selbst Verbeultes auf eine ganz eigene Weise schön werden kann, oder?“  

Eifrig kramt Luise in ihrer Tasche nach Papier und  Bleistift, um sich schnell ein paar Notizen zu ihren neu gewonnenen Erkenntnissen zu machen.  „Also“ sinniert sie weiter „wenn ich mir im Leben eine Beule hole, dann bleibe ich nicht im Gram darüber stecken, sondern ich konzentriere alle meine Kräfte darauf, aus der Beule irgendwie etwas Schönes zu machen … Und wenn ich sie schon nicht ausbeulen kann, dann will ich sie doch wenigstens liebevoll polieren und auf diese Weise den Schaden für mich in Schönheit wandeln. Ja … und dann will ich die Beule mit ganz besonderer Anmut tragen – schließlich ist sie ja ein Stück von mir!“

Plötzlich muss sie an die Basisstation denken, und das Herz tut ihr richtig weh vor lauter Sehnsucht nach  Susanne und Maria und Mutter Anna. „Ach, wie ich  sie alle vermisse! Könnte ich doch jetzt bei ihnen sein!  Wir  würden genüsslich schmatzend Susannes köstlichen Seelentrostkuchen vernaschen, dazu an Marias Kraft spendender Notfallbowle nippen … und dann würden    wir uns gegenseitig unsere Beulen zeigen …“

STOPP! Jetzt bloß nicht vor lauter Sehnsucht in einen Unglücksmoment abrutschen … hätte - wäre - würde wollte sie doch nicht mehr denken! Nein, sie will ganz  im HIER und JETZT sein. Sie nimmt einen tiefen Atemzug und reckt und streckt herzhaft gähnend ihre Glieder, derweil ihre Gedanken weiterhin unbeirrt um  die Beulentheorie kreisen. „Wenn man so gar keine Beulen hätte … Hm!“

Doc Lucky hatte ihr neben den Glückshufeinsen noch  ein paar lose Hufeisennägel mitgegeben, die sie in der Basisstation zu kleinen Schmuckringen verarbeiten wollte - Präsente für die Gäste der nächsten Schatzparty. Die Nägel hatte er zum Schutz in altes Zeitungspapier eingewickelt. Luises Blick fällt auf den zerknitterten Zeitungbogen. NIE WIEDER FALTEN  verspricht eine fette Überschrift. Darunter in farbigem Kleindruck: Schönheitskorrekturen: Faltenunterspritzung – Lifting – Fettabsaugung. Daneben zwei Fotos: vorher – nachher. Interessiert studiert Luise beide Aufnahmen. Das erste Bild zeigt eine etwas mollige Frau mittleren Alters mit Lachfalten und ungebändigter Lockenpracht. Auf dem zweiten Bild ist die gleiche Frau abgebildet, dieses Mal rank und schlank, mit perfekt sitzenden Haaren und komplett faltenfreiem Gesicht. „Wie eine starre Maske“ durchfährt es Luise. Ohne Zweifel makellos - aber schrecklich nichtssagend. Die Spuren gelebter Zeit – einfach geglättet und wegoperiert. Das soll schön sein?

Ja, zugegeben: Die Frau sieht auf dem zweiten Foto  jünger aus. Aber zusammen mit den Falten wurde ihre einzigartige Ausstrahlung gleich mit beseitigt. „Schade“ seufzt Luise mit echtem Bedauern, „so ein lebendiges Gesicht auf Schönheitsnorm zusammengestutzt.“ Die Falten, die Schrammen, die Beulen – gerade darin zeigt sich doch die  Einzigartigkeit eines jeden!

Vor ihrem inneren Auge erscheinen lebhafte Bilder von ihren Freunden und von den Menschen, die sie  auf ihren Expeditionen kennen gelernt hat. Keiner von ihnen perfekt, alle in irgendeiner Weise vom Leben mit Schrammen und Falten gezeichnet. Und gerade diese von der Gesellschaft so sehr als unliebsam verpönten Zeichen machen doch jeden so ganz und gar unverwechselbar. Allein die Vorstellung davon, dass alle Menschen ihre angeblichen Unzulänglichkeiten einfach so wegmachen lassen würden …  grässlich, einfach grässlich!!!

Nie zuvor ist es Luise dermaßen klar bewusst geworden, was wahre Schönheit wirklich ausmacht. Was hatten denn all ihre Freunde und Bekannten gemeinsam? Eine positive Einstellung zum Leben, ein aus tiefster Überzeugung und mit unerschütterlichem Urvertrauen gespicktes: Ja, ich lebe - liebe - wachse - begreife - falle hin - steh‘ wieder auf - lerne - lebe und liebe immer weiter. Jede Blessur: Zeugnis einer neuen Lebenserfahrung. In solchen Gesichtern kann man lesen. Sie sind interessant, sie sind spannend, sie sind einmalig, sie leuchten von innen heraus – kurzum: sie sind einfach unwiderstehlich schön!

Luise seufzt behaglich vor sich hin. Gerade hat sie etwas ganz Wichtiges begriffen – und sich so ganz nebenbei mir ihren eigenen Beulen und Speckröllchen ausgesöhnt. Und frohen Herzens notiert sie:

Frische Beulen sind zum Heulen. Doch wenn man sie schön glänzend putzt, dann haben sie noch jedem genutzt. Sie belohnen mit Lebenserfahrung, sie geben Herz und Seele Nahrung. An Erfahrungen reifen heißt Leben begreifen.

Luise überlegt einen kurzen Augenblick, bevor sie sich,  mit einem zufriedenen Seufzer, die Quintessenz notiert:

Akzeptiere dich jederzeit so, wie du bist,                                                             dann wirst du wahrlich vom Leben geküsst.

 

 

Sabine Gehlen:

Luise im Glück - Expeditionen zu den Schätzen des Lebens

ISBN: 978-3-7322-4862-9